Wissen weitergeben, das man nicht googeln kann
In Organisationen steckt ein Schatz, der oft unbemerkt bleibt. Er ist nicht in Datenbanken abgelegt, nicht auf Webseiten dokumentiert, nicht in Schulungsunterlagen verpackt. Es ist das Erfahrungswissen. Dieses Wissen ist in Köpfen gespeichert, gewachsen durch Jahre des Ausprobierens, Scheiterns, Lernens und Verbesserns. Und genau dieses Wissen droht verloren zu gehen, wenn Mitarbeitende das Unternehmen verlassen oder sich Aufgaben verändern. Wie lässt sich dieses stille, implizite Wissen überhaupt festhalten und weitergeben? Eine besonders kraftvolle Methode hat in den letzten Jahren wieder verstärkt Aufmerksamkeit bekommen: Storytelling.
Warum gerade Geschichten?
Geschichten sind so alt wie die Menschheit. Schon lange bevor es Schrift gab, wurden Erfahrungen mündlich weitergegeben – in Form von Erzählungen. Geschichten helfen uns, Erlebtes zu strukturieren, Zusammenhänge zu erkennen und Bedeutung zu schaffen. Sie wirken emotional und bleiben im Gedächtnis. In der Wissensforschung ist längst anerkannt, dass Storytelling eine besonders wirkungsvolle Methode ist, um komplexe, kontextspezifische Informationen weiterzugeben, wie sie für Erfahrungswissen typisch sind (Schreyögg 2003).
Anders als abstrakte Anleitungen oder technische Beschreibungen transportieren Geschichten nicht nur das „Was“ und „Wie“, sondern auch das „Warum“ und „Was hätte passieren können“. Sie machen Entscheidungsprozesse transparent, geben Einblicke in Denk- und Handlungsmuster und erlauben es dem Zuhörenden, aus Erfahrungen anderer zu lernen – ohne selbst den gleichen Fehler machen zu müssen.
Erfahrungswissen als Wissensform
Erfahrungswissen ist häufig implizit. Es basiert auf Intuition, Routinen, Bauchgefühl – oft ohne dass die betroffene Person es in klaren Worten ausdrücken kann. Gerade deshalb ist es so schwierig zu dokumentieren. Wenn eine Pflegekraft sagt: „Ich spüre, wenn etwas nicht stimmt“, oder ein Techniker merkt, dass eine Maschine bald ausfallen wird, obwohl noch kein Sensor Alarm schlägt, dann ist das Wissen, das nicht in Lehrbüchern steht.
Michael Polanyi, einer der zentralen Theoretiker in diesem Bereich, prägte den Satz „We know more than we can tell“ (Polanyi 1966). Und genau hier liegt der Mehrwert von Storytelling. Denn eine Geschichte kann nicht nur erklären, sondern auch andeuten, vorleben, in Stimmungen versetzen. Sie bietet eine Form, in der implizites Wissen greifbar wird.
Wenn Geschichten Brücken bauen
Der Transfer von Erfahrungswissen scheitert häufig daran, dass zwischen Wissensgebenden und -nehmenden eine Kluft besteht. Unterschiedliche Fachsprachen, Erfahrungslevel oder Perspektiven führen dazu, dass Informationen nicht ankommen oder falsch verstanden werden. Storytelling kann hier als Brücke wirken.
Eine gut erzählte Geschichte setzt nicht voraus, dass das Publikum alle Fachbegriffe kennt. Sie nimmt die Zuhörenden mit in die Situation, zeigt, was eine Person dachte, fühlte, warum sie so gehandelt hat. So wird Verständnis erzeugt und damit der Boden für nachhaltiges Lernen bereitet.
Narrative Formate im organisationalen Kontext
Storytelling im Unternehmenskontext ist weit mehr als das Erzählen einer Anekdote. Es geht um strukturierte, gezielte Erzählformate, die Wissen transportieren und gleichzeitig an emotionale und soziale Kontexte anknüpfen. Dies kann in vielen Formaten geschehen:
Erfahrene Mitarbeitende berichten in sogenannten „Wissensgeschichten“ über zentrale Wendepunkte in Projekten, kritische Entscheidungen oder unerwartete Lösungswege. Auch Interviews, Podcasts oder Videoformate können eingesetzt werden, um Erfahrungswissen narrativ zugänglich zu machen (Snowden 2005).
Ein zunehmend beliebter Ansatz ist das „Erfahrungslernen durch Fallgeschichten“. Hier schildern Teams herausfordernde Situationen aus der Praxis, analysieren gemeinsam das Vorgehen und entwickeln daraus Handlungsleitlinien. Auch in Onboarding-Prozessen können Geschichten von langjährigen Mitarbeitenden helfen, neue Kolleginnen und Kollegen mit der Kultur, den Werten und der Arbeitsweise vertraut zu machen.
Kulturelle Bedingungen für gutes Storytelling
Storytelling lebt von Authentizität und Offenheit. Deshalb braucht es eine Kultur, in der Fehler nicht tabuisiert werden, sondern als Lernchancen gelten. Nur wenn Menschen bereit sind, auch von Scheitern und Umwegen zu berichten, entsteht ein echter Erkenntnisgewinn. Dies erfordert Vertrauen, Wertschätzung und die Bereitschaft, Wissen wirklich zu teilen.
In vielen Organisationen herrscht noch immer eine Kultur des „Wissens ist Macht“. Hier ist es wichtig, Anreize zu schaffen, die das Teilen von Erfahrungswissen fördern. Dies kann durch Anerkennung, Feedback oder auch durch strukturelle Einbindung ins Wissensmanagement geschehen (Nonaka & Takeuchi 1995).
Herausforderungen und Grenzen
Natürlich hat Storytelling auch Grenzen. Nicht jede Geschichte ist relevant, nicht jede lässt sich gut erzählen. Und nicht alle Personen verfügen über das gleiche Talent, Erlebnisse in spannende Narrative zu verwandeln. Zudem besteht die Gefahr, dass durch selektive Erinnerung oder persönliche Färbung ein verzerrtes Bild entsteht.
Daher ist es wichtig, Storytelling methodisch zu begleiten. Dies beginnt bei der Auswahl der Themen und Geschichten, geht über die Schulung der Erzählenden bis hin zur Einbettung in organisatorische Prozesse. Nur so lässt sich gewährleisten, dass Storytelling nicht zum Selbstzweck wird, sondern echten Wissensmehrwert schafft.
Storytelling trifft Digitalisierung
In einer digitalisierten Arbeitswelt ergeben sich neue Chancen für Storytelling. Digitale Tools ermöglichen es, Geschichten zu speichern, zu teilen, zu durchsuchen und gezielt in Lernkontexte einzubinden. Ob über Podcasts, Videos, interne Plattformen oder virtuelle Austauschformate: Erfahrungswissen kann heute vielfältiger denn je zugänglich gemacht werden.
Gleichzeitig wächst jedoch die Herausforderung, Authentizität zu wahren. Gerade digitale Medien neigen zur Glättung, Vereinfachung, Professionalisierung. Damit Storytelling seine Wirkung entfalten kann, müssen digitale Formate Räume für Echtheit, Unmittelbarkeit und Persönliches schaffen. Dies erfordert kluge Gestaltung, aber auch Mut zur Imperfektion.
Storytelling als Führungsinstrument
Auch Führungskräfte können von Storytelling profitieren, nicht nur als Mittel zur Wissensweitergabe, sondern auch zur Motivation, Orientierung und Sinnstiftung. In Zeiten komplexer Veränderungen reichen nüchterne Zahlen oder Bullet Points oft nicht aus, um Menschen mitzunehmen. Geschichten können hier helfen, ein „Warum“ zu vermitteln, kollektive Identität zu stiften und Vertrauen aufzubauen (Denning 2005).
Wenn eine Führungskraft erzählt, wie ein Team in der Krise zusammengewachsen ist, wird aus einer abstrakten Vision ein emotional erlebbarer Weg. Wenn sie eigene Fehler eingesteht und erklärt, was sie daraus gelernt hat, entsteht Nähe und Glaubwürdigkeit. Und wenn sie Geschichten von Kunden oder Partnern weiterträgt, werden Strategien greifbar und erlebbar.
Fazit: Geschichten als Wissensträger der Zukunft?
Erfahrungswissen wird zunehmend zur Schlüsselressource in Organisationen. In einer Welt, in der sich Fachwissen ständig erneuert und standardisiertes Wissen jederzeit verfügbar ist, macht der Unterschied oft aus, wer über kontextbezogenes, praktisches, implizites Wissen verfügt und es weitergeben kann.
Storytelling ist kein Wundermittel. Aber es ist ein mächtiges Werkzeug, um Erfahrungen zu teilen, Wissen lebendig zu halten und Lernen nachhaltig zu gestalten. Es verbindet Menschen, schafft Sinn und macht aus isolierten Erlebnissen kollektive Erkenntnisse. Deshalb gehört Storytelling in jedes zukunftsorientierte Wissensmanagement.
Was können wir dafür tun
Bei der Eonar GmbH wissen wir um den Wert von Erfahrungswissen und wie schwer es oft ist, dieses Wissen greifbar zu machen. Genau hier setzen wir an. Wir unterstützen Unternehmen und Organisationen dabei, Erfahrungswissen zu identifizieren, aufzubereiten und durch Storytelling für andere zugänglich zu machen. Mit methodischer Beratung, praktischer Umsetzung und digitalen Werkzeugen schaffen wir Räume, in denen Geschichten wirken können – als Träger von Wissen, Vertrauen und Zusammenarbeit. Ob im Bildungsbereich, in der Verwaltung oder in Unternehmen jeder Größe: Wir helfen, das wertvollste Wissen Ihrer Organisation lebendig zu halten.
Autorin: Jana-Larissa Grzeszkowiak
Referenzen
Denning, S. (2005): The Leader’s Guide to Storytelling. San Francisco: Jossey-Bass.
Nonaka, I. & Takeuchi, H. (1995): The Knowledge-Creating Company. Oxford: Oxford University Press.
Polanyi, M. (1966): The Tacit Dimension. Garden City: Doubleday.
Schreyögg, G. (2003): Wissen in Organisationen: Theoretische Konzeptionen und praktische Relevanz. Wiesbaden: Gabler.
Snowden, D. (2005): Narrative Patterns: Storytelling in Organisations. In: Knowledge Management Research & Practice, 3(3), 217–223.