Wie effektives Bildungs- und Wissensmanagement den natürlichen Gedächtnisverlust ausbalancieren kann
Ob in der Schule, im Studium oder am Arbeitsplatz: Jeder Mensch kennt das Gefühl, Gelerntes schnell wieder zu verlieren. Häufig bleiben von einem Vortrag, einem Training oder einer Schulung nach kurzer Zeit nur vage Erinnerungen. Dieses Phänomen wurde bereits im 19. Jahrhundert systematisch untersucht und ist als “Vergessenskurve” bekannt.
Der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus war einer der ersten, der sich mit der Frage beschäftigte, wie schnell Menschen neu erlernte Inhalte wieder vergessen. Seine Forschung belegte, dass ein Großteil des Wissens innerhalb weniger Stunden oder Tage verloren geht, wenn es nicht aktiv gefestigt wird (Ebbinghaus, 1885). Seine Erkenntnisse gelten bis heute als Grundlage für viele didaktische und lernpsychologische Ansätze.
Vergessen ist kein Versagen, sondern ein natürlicher Prozess
Es ist wichtig zu verstehen, dass Vergessen nicht auf mangelnde Intelligenz oder Motivation zurückzuführen ist. Das Gehirn ist darauf programmiert, Informationen auszusortieren, die es als weniger wichtig einstuft oder die im Alltag keine Relevanz mehr haben. Auf diese Weise schützt es uns vor einer Überflutung durch irrelevante Details.
Für das Bildungswesen, die Personalentwicklung und das betriebliche Wissensmanagement ist dieser Mechanismus allerdings eine Herausforderung. Denn Wissen ist in diesen Bereichen nicht nur wertvoll, sondern oft entscheidend für Effizienz, Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit. Die Aufgabe besteht also darin, Strukturen zu schaffen, die das Behalten von Informationen gezielt unterstützen.
Wiederholung wirkt – aber richtig dosiert
Ein zentrales Mittel gegen das Vergessen ist die Wiederholung. Ebbinghaus selbst zeigte, dass Inhalte besser im Gedächtnis bleiben, wenn sie mehrfach wiederholt werden. Dabei ist jedoch nicht nur die Häufigkeit, sondern auch das Timing entscheidend.
Neuere Studien haben gezeigt, dass sogenannte verteilte Wiederholungen besonders effektiv sind. Dabei wird derselbe Lernstoff in wachsenden Zeitabständen erneut bearbeitet. Dieses Vorgehen, auch als “Spacing-Effekt” bekannt, führt dazu, dass sich Wissen tiefer verankert und weniger schnell verloren geht (Cepeda et al., 2006). Ein bekanntes Beispiel dafür ist das gezielte Wiederholen von Vokabeln mithilfe digitaler Karteikarten, die den Lernrhythmus individuell anpassen.
Im betrieblichen Kontext lässt sich dieses Prinzip nutzen, indem Schulungsinhalte in modulare Einheiten aufgeteilt und regelmäßig in kurzen Formaten aufgefrischt werden. Digitale Lernplattformen, die adaptiv auf den Wissensstand der Nutzenden reagieren, bieten hier große Vorteile.
Wissen muss Anwendung finden
Neben der Wiederholung ist die praktische Nutzung von Wissen ein zentraler Faktor für dessen langfristige Verfügbarkeit. Inhalte, die nicht aktiv eingesetzt werden, verschwinden deutlich schneller aus dem Gedächtnis. Wer etwa eine neue Software nur einmal testet, wird sie in wenigen Wochen kaum noch bedienen können. Wer sie jedoch regelmäßig einsetzt, verankert die dazugehörigen Handgriffe tief im mentalen Repertoire.
Wissenschaftliche Arbeiten weisen darauf hin, dass der aktive Umgang mit Gelerntem eine der wirksamsten Strategien gegen den Gedächtnisverlust ist (Bjork & Bjork, 1992). Dabei kann es sich um reale Anwendungsfälle, Fallstudien, Gruppenprojekte oder interaktive Übungen handeln.
Bildungsangebote sollten daher möglichst nah an der Lebens- und Arbeitsrealität der Lernenden angesiedelt sein. Für Unternehmen bedeutet dies, dass Weiterbildungsmaßnahmen nicht isoliert vom Arbeitsalltag stattfinden sollten. Eine enge Verzahnung mit konkreten Aufgabenstellungen, regelmäßiges Feedback und der Austausch im Team tragen dazu bei, Wissen nicht nur zu speichern, sondern auch weiterzuentwickeln.
Strukturiertes Lernen entlastet das Gedächtnis
Ein weiterer Aspekt, der häufig übersehen wird, ist die Rolle der Struktur und Verständlichkeit von Lerninhalten. Informationen, die unübersichtlich, widersprüchlich oder zu abstrakt präsentiert werden, sind schwer zu behalten. Hier setzt die sogenannte “Cognitive Load Theory” an, die beschreibt, wie die begrenzte Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses durch schlecht aufbereitete Inhalte überfordert werden kann (Sweller, 1988).
Gute Lernmaterialien zeichnen sich dadurch aus, dass sie klare Bezüge herstellen, thematische Schwerpunkte sichtbar machen und auf Vorwissen aufbauen. Wer etwa im Biologieunterricht gleich mit komplexen hormonellen Steuerkreisläufen beginnt, ohne vorher grundlegende Begriffe zu klären, riskiert Überforderung. Das gilt in gleichem Maße für technische Schulungen, rechtliche Weiterbildungen oder Management-Trainings.
Auch visuelle Elemente wie Infografiken, Prozessdiagramme oder schematische Darstellungen können helfen, Zusammenhänge zu verstehen und mental zu verankern. Moderne Lernplattformen nutzen diese Erkenntnisse, um Inhalte nicht nur attraktiv, sondern auch gehirngerecht aufzubereiten.
Lernen bedeutet auch: Wieder lernen
Ein oft übersehener Teil der Ebbinghaus’schen Forschung betrifft die Lernzeit. Ebbinghaus interessierte sich nicht nur dafür, wie viel Wissen verloren geht, sondern auch dafür, wie schnell es sich erneut aneignen lässt. Dabei zeigte sich, dass früher Gelerntes bei erneutem Lernen deutlich schneller reaktiviert werden kann. Voraussetzung ist jedoch, dass die Lernmethoden effizient sind (Ebbinghaus, 1885).
Für Unternehmen ist diese Erkenntnis besonders relevant: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die regelmäßig an Fortbildungen teilnehmen oder interne Wissensaustauschformate nutzen, können neue Aufgaben schneller bewältigen und sich rascher auf veränderte Anforderungen einstellen. Das spart nicht nur Zeit, sondern reduziert auch Fehlerquellen und unterstützt die Anpassungsfähigkeit der Organisation insgesamt.
Kurven verstehen, Prozesse verändern
Vergessens vs. Lernkurve

(Quelle: Oswald, 2008)
Die Visualisierung der Vergessenskurve (Oswald, 2008) zeigt deutlich, wie schnell Wissen ohne gezielte Interventionen verloren geht. Die Lernkurve dagegen verdeutlicht, dass nur systematisch gestaltetes Lernen zu einem stabilen Wissensaufbau führt. Die Wiederholungskurve, wie sie etwa von Stangl (2025) dargestellt wird, veranschaulicht die Effekte regelmäßiger Wiederholung auf die Gedächtnisleistung.
Die Wiederholungskurve

(Quelle: Stangl, 2025)
Wer diese Zusammenhänge ernst nimmt, erkennt, dass Wissen nicht von selbst erhalten bleibt. Es braucht gezielte Maßnahmen, um es zu festigen, zu aktivieren und nutzbar zu halten. Das gilt nicht nur für Schulen und Universitäten, sondern in besonderem Maße für Unternehmen, Verwaltungen und andere Organisationen, die auf das Know-how ihrer Mitarbeitenden angewiesen sind.
Die Rolle von Wissensmanagement in der Praxis
Wissensmanagement ist weit mehr als das Speichern von Informationen in digitalen Archiven. Es umfasst die Erfassung, Strukturierung, Verbreitung und Anwendung von Wissen im organisationalen Kontext. Ziel ist es, vorhandenes Wissen nutzbar zu machen, Wissensverluste zu vermeiden und neue Erkenntnisse systematisch zu integrieren.
Ein zukunftsfähiges Wissensmanagement nutzt digitale Technologien ebenso wie soziale Formate. Kollaborative Tools, regelmäßige Wissenszirkel, systematische Dokumentation, Lessons Learned aus Projekten oder der gezielte Austausch zwischen Generationen im Unternehmen sind nur einige Beispiele für funktionierende Praxisformate.
Entscheidend ist dabei die Erkenntnis, dass Lernen und Wissenserhalt nicht nebenbei geschehen. Sie müssen aktiv gestaltet, geplant und evaluiert werden, eingebettet in eine Kultur, die Offenheit, Weiterentwicklung und Austausch fördert.
Wie Eonar Unternehmen konkret unterstützt
Bei Eonar haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, Unternehmen dabei zu helfen, ihre Bildungs- und Wissensprozesse nachhaltig zu gestalten. Unsere Lösungen sind wissenschaftlich fundiert, methodisch durchdacht und praxisnah umsetzbar.
Wir analysieren bestehende Lernformate und Wissensflüsse, identifizieren Schwachstellen im Wissensaufbau und entwickeln passgenaue Strategien zur Verbesserung. Ob durch digitale Lernumgebungen, adaptive Schulungsprogramme oder begleitende Coaching-Angebote: Wir schaffen Rahmenbedingungen, unter denen Wissen nicht nur gespeichert, sondern angewendet, geteilt und weiterentwickelt wird.
Unser Ansatz verbindet Erkenntnisse der Lernpsychologie mit technologischer Innovation und organisatorischem Verständnis. So entstehen Lösungen, die nicht nur funktionieren, sondern echte Wirkung entfalten – im Arbeitsalltag, im Kopf der Mitarbeitenden und in der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit unserer Kundinnen und Kunden.
Referenzen
Bjork, R. A., & Bjork, E. L. (1992). A new theory of disuse and an old theory of stimulus fluctuation. In A. F. Healy, S. M. Kosslyn, & R. M. Shiffrin (Eds.), From learning theory to connectionist theory: Essays in honor of William K. Estes (S. 35–67). Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Cepeda, N. J., Pashler, H., Vul, E., Wixted, J. T., & Rohrer, D. (2006). Distributed practice in verbal recall tasks: A review and quantitative synthesis. Psychological Bulletin, 132(3), 354–380.
Ebbinghaus, H. (1885). Über das Gedächtnis: Untersuchungen zur experimentellen Psychologie. Leipzig: Duncker & Humblot.
Oswald, W. D. (2008). Gedächtnis. In: Gerontopsychologie. Springer, Wien.
Stangl, W. (2025). Die Vergessenskurve [online], https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEDAECHTNIS/Vergessen-Ebbinghaus.shtml
Sweller, J. (1988). Cognitive load during problem solving: Effects on learning. Cognitive Science, 12(2), 257–285.
Autorin: Jana-Larissa Grzeszkowiak